Paul Kranzler

Im Tal

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1954 errichtete Herr B. eine Gartenhütte.
1963 reichte er einen Plan beim Gemeindeamt Leonding ein, um ein eingeschossiges Häuschen zu errichten.
Eine weitere Einreichung gab es 1971 für den Bau eines zweiten Stockes und die Errichtung einer Doppelgarage mit darunterliegenden Lagerräumen.
1979 wurde angebaut und ein neues Treppenhaus errichtet. Im Zuge dessen wurde die Fassade des Hauses an drei Seiten mit Eternitvertäfelung eingedeckt.
Herr B. führte die meisten Arbeiten selbst durch, mit Unterstützung des Baumeisters Wöhrer aus Traun.
Herr B. lebte mit seiner Frau Paula in diesem Haus. Im Erdgeschoss und Obergeschoss befinden sich zwei grundrissgleiche Wohnungen.
Bewohnt wurde nur die Erdgeschosswohnung.
Der ersten Stock wurde geschont. Zuerst für die Kinder, die sich Herr und Frau B. wünschten, aber nicht bekamen.
Später hielt man die Wohnung im ersten Stock für eine Pflegerin frei, die Herr und Frau B. im Alter zu brauchen glaubten.
Damit beide Wohnungen autark wären, wurden auch separate Strom- und Gaszähler installiert.
Etwa 1985 verstarb Paula B.
Seitdem lebte Herr B. allein in dem großen Haus, führte Instandhaltungsarbeiten durch, beauftragte die Dämmung des Daches und legte einen terrassenartigen Garten auf dem steilen Grundstück an, mit einem Obstgarten, einem Gewächshaus für Gemüse und einer Bienenhütte.
Für seine Bienen lies er eine Blumenwiese wachsen und mähte zweimal im Jahr mit der Sense.
Herr B. verstarb im Alter von 89 Jahren, bis zuletzt lebte er allein in diesem Haus.
Es gab keine nahen Verwandten, ein Cousin wurde als Erbe bestimmt.
Dieser Cousin war selbst bereits über 80 und vermachte das Haus sogleich seinem Sohn, der sich für den Verkauf der Immobilie entschied.
Das Grundstück bestand übrigens aus zwei Parzellen in einer begehrten Wohngegend am Stadtrand.
Die Parzelle mit dem Haus und die Parzelle ohne Bebauung wurden getrennt zum Verkauf angeboten.
Das Haus wurde vom Keller bis zum Dachboden, von der Garage bis zur Bienenhütte komplett geräumt, die Bienenvölker zu einem benachbarten Imker übersiedelt. Mitte 2014 wurden das Haus und das danebenliegende Grundstück inseriert und verkauft.

Paul Kranzler

 

Paul Kranzler, geboren 1979 in Österreich, lebt in Österreich und Leipzig.
www.paulkranzler.com 

Walter Moser

Alltägliche Lebensrealitäten und soziale Milieus sind zentrale Themen von Paul Kranzlers Fotografien. Kranzler hält ihm vertraute Personen in ihrem räumlichen Umfeld fest, wie beispielsweise seine Wohnungsnachbarn in der Arbeit Land of Milk and Honey (2005) oder einen Jugendlichen und dessen Familie in Tom (2007). In der auf diese Projekte folgenden Serie Brut (2010) widmete sich der Künstler seiner eigenen Verwandtschaft, den Eltern, Großeltern, Tanten und Geschwistern. Im Tal entwickelt Brut thematisch und formal weiter, legt Kranzler hier den Fokus doch noch enger und fotografiert seine eigene Kleinfamilie in ihrem Wohn- und Lebensumfeld außerhalb von Linz. Die Partnerin und die Kinder werden vorwiegend in dem für Kranzler typischen Mittelformat festge- halten. Wie in den bereits genannten vorangegangenen Arbeiten kombiniert er auch in dieser Werkgruppe Porträts mit stilllebenartigen Details von Wohninterieurs und Landschaftsansichten, um das Lebensumfeld zu visualisieren. Diente die Darstellung des räumlichen Kontextes in Land of Milk and Honey und Tom in sozialdokumentari- scher Manier der Charakterisierung der Lebensbedingungen der Protagonistinnen und Protagonisten, suggeriert sie hier das persönliche Erleben des eigenen Zuhauses und der Familie. Zwar wird das Milieu durch Architekturfotos des Wohnhauses oder Aufnahmen der Siedlung eingefangen, doch wird dieses zumeist äußerst subjektiv wiedergegeben. Nicht nur fotografiert Kranzler beiläufige Motive wie einen Haarzopf, ein beleuchtetes Kinderzelt und eine Ecke des Gartens, auch verfremdet er einzelne Motive, etwa indem er während einer Langzeitbelichtung mit einem Feuerzeug Funken erzeugt, die im Bild als abstrakte Farbflecke wiedergegeben werden. Der Künstler geht darüber hinaus häufig sehr nah an seine Motive heran. Aufgrund des engen Bildaus- schnitts werden Personen und Gegenstände oft nur als visuelles Fragment festgehalten. Die Frage, ob diese den Ausschnitt betonende Sichtweise auf einer Auseinander- setzung mit den technischen Bedingungen der Kamera und dem medienimmanenten Dokumentarismus der Fotografie basiert, sei hier nur angedeutet. Durch dieses formale Mittel schreibt sich der Künstler jedenfalls selbst in die Bilder ein beziehungsweise ver- leiht er einer spezifisch subjektiven Sehweise Ausdruck, die eher persönliche Eindrücke und Stimmungen visualisiert denn die eigene Lebenswirklichkeit faktisch wiedergibt. Dieser Zugang wird durch die mosaikartige Abfolge der Bilder noch zugespitzt. Professionell komponierte Fotos und Schnappschüsse wechseln sich ab und evozieren weniger eine kausal-narrative als vielmehr eine assoziative Lektüre. Setzte Kranzler in Land of Milk and Honey ähnlich wie Manfred Willmann in seinem Klassiker Das Land (1981–93) einen hellen Kamerablitz ein, ist hier das Licht aufgrund von Langzeitbelichtung und indirekter Beleuchtung subtiler. Dadurch kennzeichnet Im Tal ein poetischer Grundton, der nach Aussage des Künstler nicht zuletzt in dem Umstand begründet ist, dass er hier seine eigene Familie fotografiert. Obwohl die Arbeit als autobiografische Selbstbeobachtung gelesen werden kann, liegt ihr Reiz gerade darin, dass Kranzler über eine rein subjektive Perspektive hinausgehend Orte und Stimmungen wiedergibt, die wohl vielen Betrachterinnen und Betrachtern vertraut sind: Wohnhaus und -gegend sind prototypisch für unspektakuläre Vorstädte in österreichischen Ballungsräumen, das mit hellrosa Fliesen ausgestattete Badezimmer ist charakteristisch für Interieurs aus den 1980er-Jahren. Im Tal changiert so nicht nur zwischen Fotoessay und erweitertem (Familien-)porträt, sondern in inhaltlicher Hinsicht auch zwischen charakteristischem Österreichbild und privater Introspektion.

 

 

Walter Moser ist Fotohistoriker. Er studierte Kunstgeschichte in Wien und Rom und ist seit 2011 Leiter der Fotosammlung der Albertina in Wien. Publikationen und Ausstellungen zur Geschichte der Fotografie, zuletzt „Film-Stills. Fotografien zwischen Werbung, Kunst & Kino“.