Manfred Willmann
Arbeit und Erinnerung
Mein Großvater, der Korbflechter
Mein Schneider
Mein Automechaniker
Mein Uhrmacher
Unser Fleischhauer, der Kinobetreiber
Mein Großvater, der Korbflechter
Mein Großvater väterlicherseits wurde 1887 in Hodschag/Odžaci, einer deutsch- sprachigen Enklave im heutigen Serbien, geboren. Im Sommer 1944, während des Zweiten Weltkriegs, musste die Familie ihre Heimat verlassen und kam schließlich nach Österreich. Auch die Familie meiner Mutter ereilte dieses Schicksal, auch sie waren „Volksdeutsche“ aus der gleichen Region. Beide Familien waren über viele Generationen schon Bauern gewesen. Nach ihrer Ansiedlung in Österreich veränderte sich ihr Leben, gleichzeitig jedoch haben die beiden Generationen, die in unserem Haus zusammen- wohnten, so weitergelebt, wie sie es zuvor als Bauern taten. Die Lieblingsarbeit meines Großvaters war das Korbflechten: In unserem Haus gab es Körbe in allen Größen und für alle Zwecke. Schließlich unterrichtete er sogar Korbflechten an einer nahen Land- wirtschaftsschule. In der Hauptschule machte ich einen kleinen Plastilin-Kopf, ein Porträt meines Großvaters. Ich erinnere mich gerne an die Bewegung seiner Hände und an den leisen Klang, wenn die Weidenruten den Lampenschirm in der Küche berührten.
Mein Schneider
Ich lernte Herrn Bernschütz 1980 kennen, weil ich wissen wollte, ob er mir aus einem handgewebten Leinen einen Anzug nähen könnte. Damals ist mir sein leichter Akzent aufgefallen, der mich an die Aussprache meiner Eltern erinnerte, und tatsächlich erzählte er mir, dass auch er aus dem früheren Jugoslawien stamme und während des Krieges nach Österreich gekommen sei. Herr Bernschütz hat seine Schneiderwerkstatt 1952 eröffnet, er hat sich rasch einen guten Ruf erarbeitet, seine Kunden kamen sogar aus Wien, und er hatte über viele Jahre bis zu sieben Angestellte. 1958 ließ er sein Ge- schäftslokal von Karl Hütter, einem bekannten Grazer Architekten, sehr elegant gestalten, und bis heute wird die Einrichtung penibel gepflegt. Er war auch aktiver Sportler, mit 78 Jahren lief er noch den New-York-Marathon. Seit meiner ersten Begegnung mit ihm habe ich einige Anzüge und Jacken von ihm schneidern lassen, die ich noch immer trage. Herr Bernschütz ist jetzt 92. Es ist ihm nicht gelungen, einen Nachfolger für seine Werkstatt zu finden und es gibt – obwohl er noch jeden Tag in die Werkstatt geht und die Auslagengestaltung den Jahreszeiten anpasst – wenig Hoffnung, dass dieser Ort der Eleganz und Handwerkskunst weiter existieren wird.
Mein Automechaniker
Autos spielen in meinem Leben eine gewisse Rolle: Aus rein sentimentalen Gründen, wegen ihrer Schönheit oder der mit ihnen verbundenen Erinnerungen bin ich zu einigen alten Autos gekommen und fahre sie manchmal – wenn sie funktionieren. Der Besuch in der Werkstatt meines Automechanikers ist oft dringend notwendig und gleichzeitig immer eine angenehme Angelegenheit. In dieser kleinen Werkstatt arbeiten zwei Personen: der Eigentümer und der Mechaniker, der ein echter Experte für Oldtimer ist. Beide sind begeisterte Autosammler. Horst, der Mechaniker, baut auch Skulpturen aus unbrauchbar gewordenen Autoteilen. Die Werkstatt liegt am Stadtrand von Graz, wo bislang landwirtschaftlich genutzte Flächen langsam zur Industriezone werden, nicht weit vom Flughafen, und sie bildet einen Treffpunkt für Autobesitzerinnen und Auto- besitzer, die ihre Faszination und Leidenschaft für Autos mit den beiden Personen teilen, die für Reparatur- und Erhaltungsarbeiten zuständig sind.
Mein Uhrmacher
Herr Grubmüller hat seine kleine Uhrmacherwerkstatt, die gleichzeitig sein Geschäfts- lokal ist, in Eibiswald – er ist einer von drei ortsansässigen Uhrmachern. Zu ihm bringe ich immer wieder meine Uhren, die aus unterschiedlichen Gründen zu reparieren sind: Einfach, weil eine neue Batterie gebraucht wird, oder – in einem speziellen Fall – weil ein wichtiger Teil zu ersetzen ist. Letzteres führt mich seit einiger Zeit schon in regel- mäßigen Abständen in die Werkstatt von Herrn Grubmüller, weil meine teuerste Uhr mittlerweile seit mehreren Jahren dort liegt, da der zu ersetzende Teil nicht mehr zu bekommen ist beziehungsweise weil eventuell doch noch Hoffnung zu bestehen scheint, ihn aufzutreiben. Jedenfalls ist mir der Laden sehr vertraut, und ich erfahre jedes Mal Neuigkeiten: von einem Einbruch und dessen aufregender Aufklärung oder von einem Wassereinbruch im Geschäftslokal. Herr Grubmüller zeigt mir bei meinen Besuchen auch gerne das Uhrwerk, das er in den 1970er-Jahren zu seiner Meisterprüfung ange- fertigt hat.
Unser Fleischhauer, der Kinobetreiber
In einem der ältesten Häuser von Eibiswald findet sich eine interessante Kombination von Betrieben: Familie Hasewend führt dort das Gasthaus Hasewend’s Kirchenwirt, eine Fleischhauerei mit einem angeschlossenen „Genussladen“ und ein Kino. In das Gast- haus waren wir öfter schon nach Begräbnissen zum Leichenschmaus eingeladen, und für solche Anlässe sind die schönen Gasträume im Obergeschoss gerade groß genug. In der Fleischhauerei bietet Herr Hasewend alles, was er als Fleischhauer verarbeitet und was ihm bäuerliche Betriebe aus der Nähe liefern: von Fisch und Käse über Wein bis hin zu Heil- und Gewürzkräutern. Und schließlich das Kino: Seit 1913 wird es in einem dem Gasthaus angeschlossenen Raum permanent betrieben, in den 1990er- Jahren wurde es renoviert und auf technisch neuesten Stand gebracht. Das von der Familie Hasewend präsentierte Programm ist den Arthouse-Kinos in größeren Städten vergleichbar. Immer wieder steht das Thema nachhaltiger und vernünftiger Lebens- mittelproduktion im Mittelpunkt. Dass gerade diese Filme hier ein großes und aufge- schlossenes Publikum finden, sollte auch diejenigen zuversichtlich stimmen, die „das Land“ als Ort kritischen Nachdenkens über unser aller Zukunft schon verloren glauben.
Arbeit und Erinnerung von Manfred Willmann fokussiert alltägliche Situationen aus dem persönlichen Umfeld des Künstlers und untersucht dabei das Erfordernis von Handfertigkeit im Arbeitsalltag sowie die Eingliederung der involvierten Personen in gesellschaftliche Wirklichkeiten. Bei den in der Steiermark entstandenen Aufnahmen handelt es sich um erweiterte Porträts, die das Aktionsfeld der Protagonisten und dessen Spezifika in ihrer Detailhaftigkeit und Bedeutung hervorheben. Sie zeigen so die Geschichte tradierter Arbeitsweisen auf, die zunehmend digitalen, maschinell gesteuerten Prozessen weichen und an öffentlicher Sichtbarkeit verlieren.
Willmann porträtiert die Arbeits- und Lebenswelt seines Schneiders, seines Automecha- nikers, des Uhrmachers und des gleichzeitigen Betreibers eines Kinos, einer Fleischerei und einer Gastwirtschaft sowie seinen Großvater als leidenschaftlichen Korbflechter. Obwohl nicht alle Personen direkt ins Blickfeld treten, sind alle porträtierten Berufe an Vorstellungen von Arbeit als Zeugnis handwerklicher Tätigkeit geknüpft, die von den Akteurinnen und Akteuren eine besondere Hingabe verlangt. Willmann erinnert damit an eine Generation, die einer Vielzahl solcher Aktivitäten nachging, die heute nur mehr wenige beherrschen. Kennzeichnend für Willmanns Arbeit ist der Blick auf identitäts- stiftende Details, die als Narrationskette den Gesetzen der Autorenfotografie folgen.
Willmanns Automechaniker etwa wird in dem für seine Berufsgruppe üblichen hetero- normativen Kontext mit Pin-up-Postern an den Wänden präsentiert, gleichzeitig aber werden seine künstlerischen Aspirationen hervorgehoben, die ihn aus Metallresten Skulpturen zur Verwendung als Aschenbecher fertigen lassen. Die minutiöse Tätigkeit des Schneiders dokumentieren die zahlreichen Abnäher und Detailnähte an einem Sakko, die notwendig sind, um eine genaue Konturiertheit und Passform zu erzielen. Gleichzeitig wird das seit 1958 unveränderte und penibel gepflegte Ambiente gezeigt, in dem dieser bis vor Kurzem seiner Tätigkeit nachging. Auch der Uhrmacher widmet sich der Feinmechanik der Zeitmesser mit großer Präzision.
Die Aufnahmen zahlreicher Körbe, die Willmanns Großvater anfertigte, werden einer Fotografie gegenübergestellt, die ein „historisches“ Bild des Künstlers in Form eines Kinderfotos zeigt. Neben diesem „Bild im Bild“ liegt ein aus Plastilin geformter Kopf – ein von Willmann als Schüler angefertigtes Porträt seines mittlerweile verstorbenen Großvaters –, dessen Abbildung an Stelle des Porträts des Protagonisten in den anderen Serien steht.
Die Fotografien dokumentieren eine Zeit als Moment der Erinnerung, da Arbeit die Identifikation mit einem Handwerk ermöglichte und industrielle Fertigungsprozesse noch nicht an der Tagesordnung waren. Willmann gelingt es, in dem von ihm porträtierten Personenkreis aus seinem eigenen Umfeld einer Lebenshaltung nachzuspüren, in der sich eine über Generationen tradierte Vorstellung von Arbeit im ländlichen wie urbanen Raum artikuliert.
Walter Seidl, geboren 1973 in Graz. Er kuratierte zahlreiche Ausstellungsprojekte in Europa, den USA und in Japan und verfasste Beiträge für KünstlerInnenmonografien und internationale Zeitschriften, darunter Camera Austria, springerin und Život umjetnosti. Lebt als Kurator, Autor und Künstler in Wien.